Ob aus Angst vor der bevorstehenden Operation oder noch geschockt vom schmerzhaften Sturz und der rasanten Blaulicht-Fahrt im Rettungswagen: Viele Patienten, vor allem Ältere und Menschen mit Demenz, können in einen akuten Verwirrtheitszustand geraten, wenn sie ins Krankenhaus kommen. Plötzlich sind sie desorientiert, depressiv oder werden sogar aggressiv. „Delir“ (aus der Spur) nennt die Medizin diesen fälschlicherweise als „temporäres Durchgangssyndrom“ verharmlosten Zustand. Dabei handelt es sich aber um eine Notfallsituation, weil es um eine ernstzunehmende Bewusstseinsstörung des Gehirns mit teils weitreichenden, langfristigen Folgen geht - wenn man nicht rechtzeitig gegensteuert. „Genau das macht die Bürgerstiftung Gütersloh mit ihrem Delir-Projekt“, sagt deren Vorstandssprecherin Katrin Meyer. Vor gut einem Jahr wurde es in Kooperation mit dem Städtischen Klinikum und dem Sankt-Elisabeth-Hospital unter fachlicher Beratung durch das LWL-Klinikum mit einem Etat von 380 000 Euro auf den Weg gebracht. 180 000 Euro davon stammen aus der Erich und Katharina Zinkann-Stiftung.
Bislang haben mehr als 200 Patient*innen davon profitiert, dass sich multiprofessionelle Delir-Teams in beiden Gütersloher Akutkrankenhäusern etabliert haben. Gearbeitet wird interdisziplinär, vom Aufnahmetag an mit seinem speziellen Delir-Screening. Außer der medizinischen Versorgung führen die Teammitglieder – orientiert am individuellen Bedarf jedes Betroffenen – effiziente Reorganisations- und Mobilisierungsmaßnahmen durch. Während beispielsweise die Ärzte bei einer Schmerztherapie in Absprache mit den Hausapothekern Medikamente vermeiden, die das Delir begünstigen könnten, prüfen Fachkräfte parallel zur Bewegungstherapie täglich mehrmals die kognitiven (geistigen) Fähigkeiten und das Verhalten der Patienten.
„Der regelmäßige Besuch, eine kleine Handmassage zur Steigerung der Sensorik, das Gespräch, in dem wir immer wieder das Krankenhaus als derzeitigen Aufenthaltsort benennen und darüber reden, was passiert ist, oder nach Rücksprache mit den Angehörigen Biografisches erwähnen, all das fördert die Reorientierung des Patienten. Große, gut sichtbar angebrachte Uhren gegen den verlorengegangenen Tag-Nacht-Rhythmus oder eine Box für persönliche Dinge, die gut erreichbar am Bett angebracht ist - das gibt ihnen Sicherheit“, erklären Katja Plock und Carolin Vorbeck. Die eine gehört als erfahrener Demenz-Coach, die andere als zusätzlich eingestellte Altenpflegefachkraft zum Delir-Team am Klinikum Gütersloh, wo das Projekt bislang auf der Intensiv- und den Chirurgischen Stationen durchgeführt wird.
Am Sankt-Elisabeth-Hospital ist es die Klinik für Anästhesiologie, operative Intensivmedizin und Schmerztherapie unter Leitung von Chefarzt Prof. Dr. Norbert Zoremba. Dort zeichnet Friederike Handke als Projektleiterin verantwortlich. Ihr zur Seite steht die Assistenzärztin Ann-Kathrin Walter, die ihre Doktorarbeit mitsamt dazu gehöriger Studie über das Delir-Projekt schreibt und es damit wissenschaftlich begleitet. Die dafür notwendigen messbaren Daten und validen Fakten will sie nicht nur während des Krankenhausaufenthalts der Probanden ermitteln, sondern auch darüber hinaus, indem sie die Teilnehmer der Studie drei Monate nach der Entlassung zuhause besucht, um eventuell Fortschritte zu registrieren.
„Denn oberstes Ziel des Delir-Projekts ist es, die Patienten in ihre gewohnte Umgebung in eine Selbstständigkeit und nicht in eine Pflegebedürftigkeit zu entlassen“, bringen es Handke und Plock auf den Punkt. Alle 14 Tage tauschen sie sich über den Stand der Dinge in beiden Häusern aus, geben sich gegenseitig Tipps. Die vom LWL-Klinikum in geriatrischen Fragestellungen unterstützte Zusammenarbeit funktioniert gut. Ihr Fazit: Die Rückmeldungen der Patienten, die durch das Delir-Projekt schneller wieder „in der Spur“ waren, sind durchweg positiv. Denn die Betreuung war zielführend und intensiv, was ihren Krankenhausaufenthalt kürzer ausfallen ließ. Der Abbau ihrer Alltagsfähigkeiten wurde deutlich vermindert. Das Pflegepersonal auf den Stationen wurde entlastet, ebenso der Kostenapparat der beiden Häuser. Zwar konnte aufgrund coronabedingter Besuchseinschränkungen die gewünschte Einbindung der Angehörigen nicht so umfassend wie geplant stattfinden. Dafür aber hatten die Teams mehr Zeit, um ihr Konzept zu erproben.
„Delir ist ein zunehmend wichtiges und aktuelles Thema, weil es für jedes Krankenhaus eine immens große und zunehmende pflegerische Herausforderung darstellt“, sagen die vier Frauen übereinstimmend. Nicht nur für Gütersloh wünschen sie sich, dass das Delir-Projekt der Bürgerstiftung nach seiner Probephase auf weitere Stationen ausgeweitet, besser noch: in den Regelbetrieb übernommen und bezüglich der Nachsorge auch bei den Hausärzten bekannter wird.
Info-Kasten:
Ein Drittel aller internistischen Patienten über 70 Jahre entwickelt ein Delir. Bei chirurgischen Patienten sind es zwischen 15 und 25 Prozent, bei Intensivpatienten sogar 30 bis 80 Prozent (je nach Schwere ihrer Erkrankung). Delir führt nicht nur zu einem bis zu zehn Tage längeren Krankenhausaufenthalt, es erhöht auch das Risiko der Sterblichkeit, eine Demenz zu entwickeln (oder zu verstärken) sowie dauerhaft gesundheitliche Einschränkungen zu erleiden.
Foto:
Foto IV: Im Klinikum zeigt Altenpflegerin Carolin Vorbeck eines der Nestelkissen, die beispielsweise Intensiv-Patienten erhalten, damit sie an den aufgenähten Knöpfen und Kordeln ziehen, statt sich die für ihre medizinische Versorgung wichtigen Schläuche herauszureißen.